Ich habe AIDS

Investigative Reportage von Glöckel zu AIDS & Gesellschaft

AIDS – ein Schlagwort, das man gerade einmal an dem sogenannten Welt-AIDS-Tag, der am 1. Dezember jeden Jahres begangen wird, wieder verstärkt in der Öffentlichkeit wahrnimmt. Das zweite „Ereignis“ zum Thema AIDS, das in Glimmer und Glamour begangen wird und den Opfern der „Schwulenseuche“, wie es Tom Hanks in Philadelphia einmal nannte, gewidmet ist, ist der international bekannte LIFE-Ball, der in Wien, ebenfalls jährlich, stattfindet.

AIDS, die Krankheit die den schwarzen Kontinent AFRIKA in ein Elend sondergleichen stürzte, Millionen Menschen bereits weltweit das Leben kostete, wirft zwei essentielle Fragen auf. 1. Warum war es bis heute nicht möglich, ein Heilmittel zu entwickeln, das die HIV-Infizierten vor dem sicheren Tod bewahrt und 2. Wie verhält sich die Gesellschaft, wenn sie direkt mit einem AIDS-Kranken konfrontiert wird?

Der Beantwortung der ersten Frage weiche ich ganz bewußt aus, weil es nachdenklich stimmt, daß beispielsweise innerhalb kürzester Zeit zur Vogelgrippe es den Anschein hat, das Medikamente entwickelt werden können und im Gegensatz für den AIDS-verursachenden Virus seit nunmehr Generationen kein probates Gegenmittel gefunden wurde, das das Überleben der Opfer sichern konnte aber gleichzeitig Milliarden in Projekte zur Erforschung und Besiedelung anderer Planeten investiert werden. Aber der zweiten Frage, der soll mit dieser Reportage nachgegangen werden und vielleicht Antworten dazu gefunden werden, warum es den Anschein hat, daß zwar Kampagnen zur AIDS-Verhütung existieren, aber die Gesellschaft dem Thema offensichtlich ausweicht. Oder können Sie sich erinnern, einmal in einer Gesprächsrunde AIDS ohne speziellen, im eigenen persönlichen Umfeld vorgekommenen Anlaßfall, thematisiert zu haben?

Der Mensch hat die Angewohnheit, Negatives zu verdrängen und diese Absolutheit des Unwiderruflichen, die des näher rückenden, greifbaren Todes im Falle der ausgebrochenen Krankheit., dies dürfte der Punkt sein an dem die menschliche Psyche an ihre Grenzen stößt. Es ist die eigene Angst und die überwiegend vorhandene Unfähigkeit, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Diese Angst ist die verschlossene Türe, die unüberwindbar scheint. Und dies ist auch ein Grund, warum AIDS-kranke Menschen sich weniger mitteilen als solche Menschen, die andere Krankheiten haben. Setzen Sie sich in das Wartezimmer einer Arztpraxis und hören Sie einfach zu, über was sich die Patienten so alles austauschen. Da gab es schon Gegebenheiten, die das eine Mal zum Schmunzeln verleiteten, aber auch solche wo ich die Befürchtung hatte, kränklicher die Praxis zu verlassen als ich gekommen war.

Patienten erwecken manchmal den Eindruck, schon bessere Kenntnisse über die Pharmazie und Krankheitsverläufe bzw. -bilder zu haben als deren behandelnder Arzt. Bei AIDS ist es jedoch völlig anders – von AIDS betroffene Menschen ziehen sich zurück und zusätzlich entfernen sich auch Andere aus ihrem Umfeld. Über alle möglichen Krankheiten kann man mit den unterschiedlichsten Menschen sprechen – aber scheinbar nicht über AIDS. Die Gesellschaft schließt sie somit aus, weil es noch immer, trotz Aufklärung Menschen gibt, die nicht wissen, wie die Ansteckung erfolgt.

Welche Eigenschaften und Erfahrungen rechtfertigen es, sich der Gesellschaft gegenüber als AIDS-Kranker zu deklarieren ohne die Achtung und Würde der Betroffenen zu verletzen?

verdeckt ermittelnde Einsatzgruppe zur Suchtgiftkriminalität - EBS Abt. II/8 BMIIn der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war ich für eine karitative Organisation ehrenamtlich tätig und führte in Zusammenarbeit mit einschlägigen Einrichtungen, überwiegend bei jungen Menschen und Schülern, Informationsveranstaltungen und Aufklärungsarbeit zu AIDS durch. Auf der Gegenseite war während meiner Dienstzugehörigkeit bei der Einsatzgruppe zur Bekämpfung der Suchtgiftkriminalität (EBS – Sondereinheit des Bundesministerium für Inneres) bemerkenswert, daß die Dienststelle, der ich angehörte, bereits zum damaligen Zeitpunkt (1986/87) eine Namensliste von AIDS-Kranken unter Ausweisung der personenbezogenen Eckdaten vorlag, die sich im örtlich begrenzten Umfeld im Bereich der Zuständigkeit der Dienststelle befanden.

Zu Beginn der 1990er Jahre folgte dann in Rahmen von Hilfsprojekten der Besuch einer AIDS-Kinderstation in Rumänien, bei dem ich eine Dokumentation drehte. Sanitäre und medizinische Umstände, die den damaligen Gegebenheiten eines Ostblock-Staates entsprachen. Es waren Säuglinge und Kleinkinder im Alter bis zu 4 Jahren, die von ihren Eltern einfach „abgegeben“ wurden. Bilder und Empfindungen, die mich nachhaltig prägten. Doch letztendlich war es nicht meine persönliche ehrenamtliche Tätigkeit in der AIDS-Aufklärung, die es mir ermöglichte, diese Recherche aus einer ganz speziellen Perspektive vorzunehmen, sondern eine essentielle eigene Erfahrung. Ich lebte eine kurze Zeit selbst im Bewußtsein, krankheitsbedingt nur noch sehr kurze Zeit zu leben – ein paar Tage, vielleicht noch wenige Wochen. Welche Emotionen und Vorgänge mit einer derartigen Erfahrung in Zusammenhang stehen, läßt sich nur schwer in Worten fassen. Bedeutend ist jedoch, daß auf reiner Gefühlsebene Empfindungen und Erfahrungen abliefen, mit denen auch ein an AIDS erkrankter Mensch konfrontiert ist, weil das Sterben für ihn in greifbare Nähe rückt.

So tauchte ich in die Empfindungen ein, diejenigen, die ich selbst erst vor kurzer Zeit erfahren „durfte“ mit all den Erfahrungen, die nur ein Mensch haben kann, der den eigenen Tod vor Augen hat und outete mich für diese Reportage als AIDS-Kranker, um Menschen in einer eher ungewöhnlichen Form mit der Krankheit zu konfrontieren, die mit einem Gesicht verbunden ist.

Ich habe AIDS – Die Legende

betteln als AIDS-Kranker

Ich stelle einen knapp unter 40-jährigen dar, der in den 90er Jahren Österreich verlassen hat und in unterschiedlichen Ländern lebte. Einmal da ein Job an einer Tankstelle – ein anderes Mal anderenorts als Kraftfahrer unterwegs. Im August 06 stellte man im Zuge einer Nachbehandlung einer Kieferoperation fest, daß ich AIDS habe. Ob die Ansteckung während eines Geschlechtsverkehrs oder durch die Blutkonserve erfolgte, die ich im Zuge der OP verabreicht bekam, konnte nicht mehr verifiziert werden. Es gibt keine Angehörigen mehr und ich wollte zurück nach Hause – nach Österreich. Vorübergehend erhielt ich bei einem Freund in Bratislava Unterkunft. Geld ist nur in geringem Maße vorhanden – ich beginne mein Leben neu auszurichten und kämpfe von einer Woche zur Anderen. Jedes Utensil, das ich in meiner Tasche mitführe ist auf die Legende abgestimmt und untermauert sie ggf auch bei polizeilichen/behördlichen Überprüfungen.

Ich habe AIDS – Der 1. Tag

Simmering: U-Bahn-Station Gasometer – während ich die Treppen hinabsteige und etwas an meinem alten Handy einstelle, rutsche ich aus und stolpere. Bravo, das hat man davon, daß man in der letzten Minute noch den Slogan am Display ändert, während man bereits arbeitet. Alles hat zwei Seiten: der Schmerz im rechten Fuß führt zu einem Hinken, das ich übernehme und für den Tag beibehalten sollte.

Fußballfan spielt Musik im U-Bahn-Zug: „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“ – alles schweigt

Die U3 fährt ein, und unverhofft kommt es zu einer „Bewährungsprobe“. Wirke ich nach außen wie der Mensch, in den ich mich hineinversetzte? Drei Jugendliche zwischen 14 und 17 sitzen auf den Bänken. Der etwa 17jährige hat seinen Fuß provokant auf dem Sitzplatz aufgestellt und unterhält sich lautstark mit seinen Freunden. Ich möchte nur vorbei, um beim Fenster Platz zu nehmen. Er gibt den Fuß runter, läßt mich vorbei, um ihn dann wieder auf die Bank zu stellen. Schätze ihn auf etwa 1,80m, er ist beleibt, trägt einen Rapid-Schal und aus seinem MP3-Player ist lautstark das Lied zu vernehmen „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“, der ganze U-Bahn-Waggon darf mithören. Kein Wort des Protestes von keinem der Passagiere und natürlich von mir schon gar nicht. Während er seinen Freunden erklärt, daß er auf die Musik steht und sie immer wieder neu abspielt, bin ich zufrieden über meine Unauffälligkeit. Teste ab, ob Fußballfan auf die Aufschrift meiner mitgeführten Tafel eine Reaktion zeigt und hantiere mit ihr, scheinbar um die Klebefolie wieder in Ordnung zu bringen. Die Aufschrift „Ich dachte nicht daran, daß es mich erwischen könnte – AIDS – Danke„. In solch einer Form, daß die Aufschrift für ihn lesbar wird. Er liest und sein Gespräch mit den Freunden verstummt.

10:30 Überrascht nehme ich zur Kenntnis, daß die organisierten Bettlergruppen im Bereich der Fußgängerzone im 1. Bezirk nicht mehr existent sind, begebe mich kurz in die Malteserkirche um dann neben deren Eingang, auf dem mitgebrachten Pölsterchen Platz zu nehmen, mein Schild und die Schale aufzustellen. Die Kunst des Beobachten ohne beobachtend zu wirken, zwischendurch Husten – schneuzen, nichts im Übermaß, blicke ich manchmal ins „Leere“ vor mich hin. Ein Wechselspiel zwischen Blicken aufnehmen und einfach nur da zu sitzen, jedoch niemals einem Blick auszuweichen.

Ein Passant reicht die Hand: „Mein Konkurs hat andere Dinge wieder meinem Herzen näher gebracht“

Journalist Glöckel vor der Malteserkriche10:55 Uhr – Ein Mann um die 55 mit roter Freizeitjacke und Rucksack, sehr gepflegt kommt auf mich zu und beginnt ein Gespräch. Es sollte in den zwei Tagen meiner Präsenz eines von Drei sein, zu denen es mit Passanten kommen würde. Er interessiert sich dafür warum ich hier sitzen muß um Geld zu bekommen, wenn ich doch AIDS habe. Ich erzähle ihm meine Geschichte und er die seine. Er war Geschäftsmann, selbständig, bis er in Konkurs ging. Jetzt muß er Schulden zurückzahlen und kann mir leider nichts geben, weil er selbst nichts hat. Er sagte jedoch, er wäre dankbar für sein Schicksal, weil diese Erfahrung andere Dinge seinem Herzen wieder näher gebracht haben. Es ist nicht so bedeutend, daß er mir kein Geld geben könnte, ich freute mich alleinig über das Gespräch, beteuerte ich, als er mir zum Abschied die Hand reichte.

Kuriositäten gibt es im Zusammenhang mit dem Betteln auf der Kärntnerstraße nicht zu vermelden, nur viel Russisch war zu vernehmen. Ein älteres Paar um die 60 ging vorbei und der Mann wollte zu mir kommen, doch seine Begleiterin rief ihn zurück. Ja, Passanten gaben Geld, manchmal rasch während des Vorbeigehens, daß es mir nicht einmal möglich war zu danken. Einige gingen offensichtlich vorbei, machten sich ihr Bild, um dann zurückzukehren und Kleingeld einzuwerfen. Junge und Alte, In- und Ausländer – ich war ehrlich überrascht. Aber es ging immer so schnell, so schnell, daß ich den Eindruck gewann, daß man die Gabe absichtlich so gestaltete um nicht in Verlegenheit eines Wortwechsels zu gelangen. Selbst mein DANKE erreichte auf Grund der Geschwindigkeit Einzelner diese erst dann, als sie sich schon wieder abgewandt hatten. Eine Frau und ein Mann, offensichtlich Touristen, kamen gemeinsam aus der Kirche und beide warfen etwas Kleingeld in die Schale und sie sagte in gutem Deutsch „So weit es geht – Ihnen alles Gute im neuen Jahr“ – nur wenige Worte, die aber aus offenen Herzen.

Auch wenn ich mir mehr an Gesprächen gewünscht hätte, so komme ich nicht darum, die Feststellung zu machen so manchen Blick erhalten zu haben, der mehr zum Ausdruck brachte als Worte es vermocht hätten.

Zivilstreife der Polizei: die CARITAS wird von Ausländern mißbraucht

Eine Zivilstreife der Wiener Polizei12:06 es ist so weit – womit ich gerechnet habe, trifft erstmalig ein. Zwei Polizisten (Bild links) in Zivil gesellen sich zu mir. Vor mir stehend zeigt der linke Mann seinen Dienstausweis: Polizei. Es folgt ein Gespräch, das ganze 9 Minuten dauern sollte. 9 Minuten Kommunikation über den Sozialstaat Österreich, meine eigenen Erfahrungen mit diesem, meine Auslandsaufenthalte, ihren Erfahrungen, die vornehmlich mit negativen Attributen im Hinblick auf Ausländer geprägt sind. Der Polizist berichtet von Schwarzafrikanern, die durch Drogenhandel ein gutes Leben führen: “ … die CARITAS ausnutzen, die woll´n einfach nicht mitkriegen, daß sie mißbraucht werden“. Nein, ich kann ihm keinen Vorwurf machen, er reflektiert seine beruflichen Erfahrungen und ich weiß, daß die Negativen aus dem Grund seiner beruflichen Konfrontationen im Vordergrund stehen. Der Polizist kommt eher nicht in die Situation wie ich, als ich beispielsweise bei der MA 48 als Taglöhner Schnee schaufelte und einen Afrikaner aus Ghana kennerlernte, mit dem ich heute noch in Verbindung stehe, der sich sein Geld ehrlich verdient und hart schuftet, um sich wirtschaftlich am Leben zu erhalten. „I kann Eahna ans sogn, versuchens des Glück in an andern Bezirk.“ Er erläutert unter der Beifügung „Des hams aber net von mir„, daß im 1. Bezirk spezielle Streifen unterwegs sind, die dem Bettlertum und den Glücksspielbanden gezielt entgegenwirken sollen. „Mir tuats söber weh, bei an österreichischen Staatsbürger“ – aber er muß mich wegschicken, obwohl die Form meines Bettelns, also ohne jemanden anzusprechen, nicht verboten sei. Nur das sogenannte „aggressive Betteln“, bei dem Passanten angesprochen werden oder gar an deren Kleidung ziehen, sei verboten. In meinem Fall wäre maximal die Benutzung der Straße zu verkehrsfremden Zwecken ein Verstoß nach der Straßenverkehrsordnung. Ich packe meine Sachen ein und entferne mich.

Acquired Immune Deficiency SyndromeNach einem kleinen Fußmarsch betrete ich um 14:04 Uhr die Passage am Karlsplatz, begebe mich zum Durchgang zwischen Staatsoper und U4. Alleine auf den ersten 30 Metern werde ich zwei Mal angesprochen. Der erste Mann fragt mich „Brauchts was zum Rauchen?“ ich verneine dankend und unmittelbar darauf kommt schon der Zweite und richtet die Frage an mich „Brauchst Somnobene“ (Anm.: Barbiturat – 1 Streifen = 10 Stück Preis ~15.- €). Ich vereinbare mit meiner Fotografin, meinen Sitzplatz in der Passage im Nahbereich einer Überwachungskamera einzurichten, da sie mit Sicherheit dann nicht lange darauf warten müßte ein Foto zu schießen, wenn die POLIZEI einschreiten würde. Gesagt, getan, mit dem Rücken zur Wand sitze ich im Durchgang – beobachte die fast als durchhetzend zu bezeichnenden „normalen“ Passanten, die diesen Weg zwischen U4 und Ring nehmen müssen und offensichtlich jeglichen, nicht notwendigen Aufenthalt bzw. ein Verweilen vermeiden. Und ich beobachte die wahre Bevölkerung dieser grotesk anmutenden Örtlichkeit: Sie scheint ein bizarres „Zu Hause“ von etwa 70 – 120 anwesenden Menschen zu sein, deren Schattenleben abseits der Gesellschaft verläuft und die durch Drogenkonsum gezeichnet sind. In kleinen Gruppen stehen sie meist zusammen und es wird vercheckt, daß jeglicher bekannte Krimi angesichts dieses Szenarios daneben verblassen würde – unvorstellbar. Ein Drogenbeeinträchtigter bleibt vor mir stehen, ließt die Tafel und meint: „Müsast a so a Hüfe hab´n wegan AIDS“ und bringt damit offensichtlich sein Unverständnis über die Notwendigkeit das Betteln eines AIDS-Kranken zum Ausdruck.

Polizistin: „… gehen Sie dort hin, wo ich Sie nicht sehen kann!“

Drei junge Männer unterhalten sich darüber, daß die Stütze (Sozialgeld) noch nicht eingetroffen sei – reine Dealer sind kaum festzustellen. Der überwiegende Teil steht selbst unter Drogen, manche können sich kaum noch auf den Beinen halten. Doch in dieser Gemeinschaft werde ich als ausgewiesener AIDS-Kranker anders behandelt. Es ist keine derartige Ausgrenzung wahrnehmbar wie an der „Oberfläche“. Und weil sich die Meisten hier in ihrem „Zu Hause“ kennen, verwundert es auch keineswegs, ein einige Meter entfernt vor sich gehendes Gespräch mit anzuhören, wo einer auf die Frage, wer ich denn sei, dem anderen deutlich zuruft: „a AIDS-Kranker“. In einer ganz speziellen Art empfinde ich mich hier in einem Kreis, dem ich mich mehr zugehörig fühle – es verbindet uns die gesellschaftliche Außenseiterrolle in diesem Schmelztiegel der anderen Art. Mit Geldspenden rechne ich kaum und angesichts des rigorosen Handelns mit Drogen aller Art, schreibe ich der Fotografin eine SMS, daß sie gehen könnte, weil ich es für ausgeschlossen erachte, daß wegen mir hier die POLIZEI auftauchen würde. Immerhin dealte man hier zeitgleich in einem Abstand von nicht einmal 2 Metern von mir entfernt. Es waren 16 Minuten Zeit vergangen, seit ich mich hier hinsetzte und mittlerweile konnte ich die Frage eines Drogenkonsumenten nach einem Somnobene-Dealers auch schon beantworten. Sie SMS war abgeschickt, das Handy gerade verstaut, da traute ich meinen Augen nicht. Zwei Polizisten – einer männlich, einer weiblich, stehen vor mir. Die Weibliche: „Bevor ich Sie hier nochmals sehe und Ihnen 21.- Euro abnehme, gehen Sie dort hin, wo ich Sie nicht sehen kann!“ Ich entgegne, daß ihre Kollegen von der Kärntnerstraße mir mitteilten, daß diese Form des „Bettelns“ nicht verboten sei. Ja, im Untergrund ist der Ton dann auch ein anderer, ich wußte dies und frage nur wo ich denn hingehen könne, worauf mir die Polizistin sagte, „Vorne rechts, der lange Gang„.

Drogenumschlagplatz Karlsplatz - bizzares Zuhause für Randgruppen der GesellschaftWelch Heuchelei und Falschheit. Hier lebt quasi eine Randgruppe der Gesellschaft, hier verdienen etliche Geld mit dem Drogenverkauf, andere können kaum stehen, weil sie so zugedröhnt sind und ich sitze nur einfach mit meinem Schild da und hoffe auf Spenden und da kommt sie um mich davon zu jagen. Unter den Augen der Kameras wird gedealt und ich soll in den „toten Winkel“ verschwinden!? Die Frau, ein Vorzeigeobjekt als Glanzstück der Staatsgewalt – nur gut, daß zuvor die Begegnung mit ihren Kollegen der Oberfläche erfolgte – sonst hätte ich schon zweifeln müssen. Ich nehme meine Tasche, gehe ein paar Schritte. Die Polizeibeamten entfernen sich und noch ehe eine Minute vergangen ist, stehen an der Stelle, an der ich zuvor saß, Drogenabhängige wie Drogendealer und gehen ihren Geschäften wieder unbehelligt nach. (Siehe Foto rechts)

Ein junges attraktiv wirkendes Geschöpf, kaum im Stande, sich aufrecht auf den Beinen zu halten, sucht ein Gespräch mit mir. Sie stöbert bemüht in einer hellblauen Geldbörse, bringt nur einzelne nicht zusammenhängende Worte hervor. Ein 20 Cent Stück, das einzige das im Börsel war, fällt zu Boden. Ich hebe es auf, gebe es ihr und kann aus ihren Wortfetzen entnehmen, daß sie mir das einzige Geldstück geben wollte, daß sie hatte. Zwischen dem Wanken und den artikulierten Wortbrocken, die keinen Zusammenhang erkennen ließen, erweckte dieser Zustand in Verbindung mit ihrem Äußeren mein Interesse. Ich lehnte dankend die Spende ab und meinte, daß sie es selbst wohl brauchen würde. Der Versuch sie zu einem Café einzuladen um über ihr Leben und ihren Drogenkonsum Inhalte zu erfahren, schlug fehl – sie war einfach geistig „ab- und weggetreten“, fern der hiesigen Realität.

Zu Fuß durchstreife ich mit meiner Tasche und dem Schild, das sichtbar in der Hand gehalten wird, die Straßen verschiedener Bezirke, setze mich in öffentliche Verkehrsmittel.

Es haben viele Menschen gelesen, fragwürdige, mitleidige aber auch verachtende Blicke haben mich getroffen – es war der erste Tag.

Ich habe AIDS – Der 2. Tag

Apostelbad WienÖffentliche Badeanstalt Wien10:40 Uhr: Wien verfügt noch über die sogenannten öffentlichen Badeanstalten, wo sich Menschen, die zu Hause über kein Bad verfügen, auch duschen können. „Städtisches Wannen u. Brausebad“ so die alte Aufschrift des Apostelbad im 3. Bezirk. Ich trete ein, positioniere mein Schild bei der Kassa auf der Ablage und erkundige mich bei der Dame nach den Kosten. Sie erklärt sehr freundlich den Besucherablauf. Bezüglich meiner Tasche und meines Schildes erläutert sie, daß jeder Besucher eine eigene Kabine hätte. Sie ist zuvorkommend und als waschechte, offenherzige Wienerin zu bezeichnen. Etwas leise frage ich dann ob es irgendwelche besonderen Hygienebestimmungen gibt, da ich HIV-positiv bin, ob das ein Problem wäre? „Wüßte ich nichts“ lautete ihre Antwort, sie händigt mir noch einen Informationszettel mit den Öffnungszeiten und den Tarifen aus. Ich danke ihr und stelle überrascht fest, daß hier im wahrsten Sinne des Wortes offene Türen für einen AIDS-Kranken existieren.

Eine ca. 70jährige Dame: Sind Sie ein bißchen schwul?

Galleria Einkaufszentrum Wien - Landstrasse11:05 Uhr: Es regnet leicht. Nach einem Rundgang im Einkaufzentrum GALLERIA auf der Landstraße suche ich vor dem Eingang im überdachten Bereich nach einem geeigneten Platz, den ich dann einnehme. Passanten gehen vorüber, die wenigsten würdigen mich eines Blickes. Eine etwa 70jährige Dame bleibt vor mir stehen und stellt die überraschenden Fragen „Was hat sie vertrieben? – Sind Sie behindert?“. Ich sei kein Vertriebener, verneine die Behinderung und es folgt ein Gespräch in dem ich meine Geschichte erzähle: Sie blickt auf das Schild und sagt: „ah, diese Krankheit!“ und fragt „Sind Sie ein bißchen schwul?“ Ich unterdrückte wegen des Szenarios das in mir aufkommende Auflachen über diese Frage und erklärte ihr, daß die Zeiten in denen nur Randgruppen wie Homosexuelle und Drogenabhängige von ADIS betroffen waren, längstens überholt seien. Jeder Mensch kann sich beispielsweise beim ungeschützten Geschlechtsverkehr oder auch durch Blutkonserven mit dem Virus anstecken. Sie will wissen, ob ich obdachlos bin, was ich auch verneine und sagt zum Abschluß, offensichtlich mit den Antworten zufrieden: „Dann haben Sie hier 1.- Euro“ übergibt ihn mir und geht.

GALLERIA Einkaufszentrum: So mein Herr – so geht das nicht!

11:15 Uhr: „So mein Herr – so geht das nicht!“ leitet ein Mitarbeiter des Einkaufszentrums die Wegweisung ein. Der Hinweis, daß ich niemanden anspreche und daß es regnet nützt nichts. „Na des gibt’s nicht – denn hier ist es – gilt alles – der Bereich des Kaufhauses ist es verboten, nicht erlaubt.“ Er ersucht mich, eine andere Örtlichkeit aufzusuchen und verfolgt, ob ich mich auch wirklich von dem Objekt entferne.

AIDS-Hilfe Wien: Auskünfte nur nach Terminvereinbarung mit der Sozialarbeiterin

Ich ziehe wieder durch die Straßen und treffe gegen 12:15 Uhr bei der AIDS-Hilfe Ecke Gürtel – Gumpendorfer Straße ein. Hier falle ich aus der Rolle, weise mich nicht als vermeintlich AIDS-Kranker aus, beim Eingang deklariere ich für einen Freund Erkundigungen einholen zu wollen, der die letzten Jahre im Ausland verbrachte, positiv diagnostiziert wurde und nun zurückkehren möchte. Will mich nach Möglichkeiten der Unterstützung und der medizinischen Versorgung erkundigen. Im Erdgeschoß lautet die Antwort: „Da ist am besten, Sie sprechen mit einen unserer Sozialarbeiter – da kann ich Ihnen nur einen Termin ausmachen oder ich kann Ihnen die Nummer mitgeben, daß Sie anrufen“. Es geht mir nur um Grundsätzliches, gibt es jemanden im Haus, der mir vielleicht Auskunft geben kann, lautete meine Nachfrage, worauf ich in den 1. Stock geschickt werde. Im 1. Stock bekomme ich zur Frage, ob mein Freund Unterstützung bekommen kann die Antwort „Das weiß ich leider nicht“ – es wird wieder auf die Sozialarbeiterin unter telephonischer Terminvereinbarung verwiesen. Man händigt mir eine Visitenkarte aus. Ein paar Tage später rufe ich die angegebene Telefonnummer an. Die Sozialarbeiterin teilt mir vorweg mit, daß sie nur noch 4 Tage bei der AIDS-Hilfe tätig ist, gibt aber auf Nachfrage dann doch einige Auskünfte.

Konfrontation der Gesellschaft mit AIDSEs folgt der Westbahnhofbereich, die Mariahilfer Straße. Ich setze mich nicht mehr mit meiner Schale hin, bin es überdrüssig, weggewiesen zu werden – suche den Kontakt und die Reaktionen durch das nach außen gerichtete Schriftbild der Tafel, die ich in der Hand halte. Betrete Geschäfte, krame immer wieder zählend das Kleingeld durch um die offenkundige Feststellung begleitet durch Gestik bzw. Mimik zu machen, daß es nicht für den Kauf des gewünschten Artikels reicht. Dabei handelte es sich um Bedarfsartikel des täglichen Lebens.

15:09 Uhr In einem Fast-Food Restaurant im unteren Bereich der Mariahilfer Straße stehe ich an der Kassa an, frage ob es noch die Artikel zu einem Euro gibt. Mit dem Essen für einen Euro in der Hand begebe ich mich zu einem Tisch und verweile dort mit meiner Tafel, die unauffällig, aber sichtbar plaziert wurde. Leute schauen, ich verweile absichtlich wesentlich länger als die Konsumation dauerte. Auch dort bleibt es bei Blicken, obwohl ich damit gerechnet hätte, daß der Mann der am Nebentisch saß, vielleicht sich mir zuwenden würde. Sein äußeres Erscheinungsbild zeugte von einer Chemotherapie, der er sich offensichtlich unterziehen mußte – vergebens, er sprach mich nicht an.

STREETWORKER-Station Karlsplatzpassage Drogenhandel in der Warteschlange

hier kommt die Polizistin nicht zur Kontrolle16:02 Uhr Ich bin zurück am Karlsplatz, um den „langen Gang vorne rechts“ wie die Polizistin ihn bezeichnete, einzusehen. Er ist fast menschenleer und mir wird klar, warum die Uniformierte dort „nicht hingeht“. In diesem Gang befindet sich eine Informations- und Ausgabestelle der STREETWORKER. Vor deren Eingangstüre eine Schlange von Menschen, vorwiegend Drogenabhängige. Und selbst dort wechseln Drogen gegen Geld vor meinen Augen die Besitzer. Überwachungskameras so positioniert, daß offensichtlich kein Winkel unbeobachtet ist. Ich stelle mich in der Warteschlange an, ein Mann des Sicherheitsdienstes, der innerhalb der STREETWORKER-Anlaufstelle steht, öffnet für den einzelnen Eintritt der wartenden Personen die Türe. Der Sozialarbeiterin, einer Frau mittleren Alters, erzähle ich „meine Geschichte“ und frage um Rat, wo ich als Betroffener Unterstützung erhalten kann. Sie erteilt mir den Ratschlag, mich in Wien behördlich zu melden und mitten während des Gespräches wird die Türe geöffnet, es kommt ein junger Mann, der auf beiden Seiten gestützt werden muß, weil er selbst durch offensichtlichen Drogenkonsum nicht mehr im Stande ist zu gehen. Meine Gesprächspartnerin unterbricht und wendet sich an ihre Kollegen „Da kommt ein Hochdosierter“. Als wir das Gespräch fortsetzen, empfiehlt sie mir letztendlich die Kontaktaufnahme zur AIDS-Hilfe. Ich danke für ihre Auskünfte und verlasse die Einrichtung.

HIV Infektionen seit 1.1.20077 HIV Infektionen in 2 MinutenAuf diesem langen Gang, der zwar physisch von der POLIZEI vermieden, aber mit Sicherheit bestens einsehbar ist, treffe ich auf zahlreiche Spiegelwände, die zu unterschiedlichsten Themenbereichen aktuelle Datenangaben mit Leuchtdioden anzeigen. Vor dem Stiegenaufgang am Ende des Ganges treffe ich auf die Angabe der Anzahl derer, die sich weltweit seit dem 1.1.2006 mit dem HIV infiziert haben. In 2 Minuten erhöhte sich diese Zahl von 57.786 auf 57.793 infizierte Menschen.

Ich habe AIDS – Die Essenz aus Erfahrungen, Wahrnehmungen und Begegnungen

Vor einigen Jahren ereignete sich in einem Wiener Spital ein Vorfall: Einem Patienten wurde wegen einer bevorstehenden Operation von einer jungen Ärztin, die im 3. Monat schwanger war, Blut abgenommen. Bei der Blutabnahme passierte das Mißgeschick, daß sich die Ärztin mit der Nadel stach. Erst dann teilte ihr der Patient mit, daß er AIDS hat. Die Ärztin (Formulantin [Ärztin in Ausbildung]) brach in Tränen aus, die Wunde wurde sofort ausgewaschen, Medikamente prophylaktisch verabreicht. Nein, sie wurde nicht mit HIV infiziert. Selbst gegenüber einer behandelnden Ärztin hatte der Todgeweihte seine Krankheit verschwiegen.

Es hat sich nichts geändert – Menschen die AIDS haben, sind ein Tabuthema in der Gesellschaft, die Gesellschaft wendet sich ab; und um nicht der Brandmarkung ausgesetzt zu sein, selbst als der wandelnde Todesbringer betrachtet zu werden, mit dem jeglicher Kontakt wiederum das eigene Leben zu verkürzen bedroht, so werden sie zu „Unpersonen“ erklärt.

Verarbeitung des Themas AIDS im Film PHILADELPHIADas ARLINE - Urteil des Supreme Court of the United StatesIn dem mit zwei Oscars ausgezeichneten Film PHILADELPHIA, der 1993 in die Kinos kam und mit Tom HANKS und Denzel WASHINGTON in den Hauptrollen besetzt war kommt es in einer Bibliothek zwischen dem AIDS-kranken Andrew Beckett (Hanks) und dem Anwalt Joe Miller (Washington) zu einem Dialog. Miller fragte Beckett, ob er zu seinem Fall der Diskriminierung, er wurde wegen seiner Krankheit von seinem Arbeitsgeber gefeuert, einschlägige gerichtliche Urteile finden konnte. Beckett bejaht dies und beruft sich auf das „Arline-Urteil“ des Obersten Bundesgericht wie folgt hören:

Das Bundesgesetz für berufliche Wiedereingliederung von 1973 verbietet die Diskriminierung ansonsten qualifizierter, behinderter Personen die im Stande sind, die an ihrem Arbeitsplatz anfallenden Aufgaben zu erfüllen. Auch wenn das Gerichtsurteil das spezielle Thema der HIV- und AIDS-Diskriminierung nicht erwähnte, haben spätere Urteile entschieden, daß AIDS vor dem Gesetz auch als Behinderung gilt. Nicht nur weil AIDS zu physischen Einschränkungen zwingt, sondern auch deshalb, weil die Vorurteile im Umfeld von AIDS einen gesellschaftlichen Tod bewirken können, welcher dem physischen Tod vorausgeht.

Dies ist das Wesen der Diskriminierung – Meinungsbildung über andere Menschen, die nicht auf individuellen Leistungen beruht, sondern vielmehr auf Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit vermeintlichen Eigenschaften.

Faksimile aus dem ARLINE-Urteil - SUPREME COURT OF THE UNITED STATES 480 U.S. 273 - 1987

Faksimile aus dem ARLINE-Urteil - SUPREME COURT OF THE UNITED STATES 480 U.S. 273 - 1987

Ich selbst hätte die Möglichkeit gehabt, den verschiedenen Wegweisungen zu widersprechen – mein Schicksal, meinen näher rückenden, bevorstehenden Tod in die Waagschale zu werfen – emotional auszubrechen – ich tat es nicht, ich fügte mich, nahm es hin, um das zu bewahren, was man WÜRDE nennt. Diese Forderung stelle ich an die Gesellschaft; den von AIDS betroffenen Menschen ebenso mit Würde zu begegnen, sie zu akzeptieren, nicht zu bemitleiden und nicht auszugrenzen, sondern als Bestandteil der Gesellschaft zu erkennen, denn die Würde und gegenseitige Achtung ist das Einzige, was uns allen letztendlich bleibt und elementarer Bestandteil dessen ist, was als Humanität bezeichnet wird. Die Wenigsten scheinen zu begreifen, daß die eigene Einstellung zum Tod, den Schlüssel zum Leben darstellt …

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Der Autor dankt Rechtsanwalt Clemens KOCHINKE der Kanzlei Berliner, Corcoran & Row, LLP aus Washington für seine Unterstützung zu den Recherchen zum Arline-Urteil www.bcr.us

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Die Bilddateien sowie Tondatei aus dem Film PHILADELPHIA wurde nur zur Dokumentation und Illustration des Reportage beigefügt. Durch diese Veröffentlichung bleibt das Copyright unberührt und verbleibt bei den Rechteinhaber, der TRISTAR PICTURES und SONY Pictures.

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