Es ist schon bemerkenswert, wie sehr doch diese Thematik die Gemüter der Menschen gegenwärtig beschäftigt. Wo immer man sich auch dieser Tage in Deutschland und Österreich bewegt, scheint das einzig wichtige Thema das schlechte Abschneiden der Schüler – also der Kinder, Jugendlichen und somit heranwachsenden Generation – bei der PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) zu sein. Diese Gespräche finden nicht nur in Medien, Parteizentralen, sondern bis hinein in die Büros von kleinen Unternehmungen statt.
Da werden mögliche Gründe und Ursachen aufgezeigt. Schuldzuweisungen für mangelhafte Leistungen im Lesen, Rechnen und Schreiben sowie in naturwissenschaftlichen Unterrichtsgegenständen sind vielfältig. Wohl auch das einzige Manko, über das sich die Gesellschaft momentan den Kopf zerbricht und den Mund zerreißt. Die Lehrer seien schuld, weil sie nicht in der Lage wären den Schülern die notwendigen Inhalte entsprechend aufzubereiten und zu vermitteln; die Bildungspolitik wäre Schuld, eingesetzte Budgetmittel würden falsch verwendet oder stünden unzureichend zur Verfügung; überhaupt machen sich die Sparpläne der jeweiligen Bundesregierung, jetzt durch die PISA-Studie enttarnt, negativ bemerkbar; mit lokalen Einschränkungen sind auch die Ausländer wieder einmal Schuld an dem mangelhaften Abschneiden im internationalen Vergleich – gerade in Österreich.
Die ganze Schizophrenie der Gesellschaftspolitik bringt jedoch die Aussage der Österreichischen Bundesministerin für Bildung Elisabeth Gehrer zum Ausdruck, die in einer ihrer ersten Stellungnahmen sinngemäß von sich gab, daß sich die Eltern mehr Zeit für ihre Kinder nehmen sollten. Na Hoppla, steht dies nicht in einem völlig krassen Widerspruch zu den geforderten und auch teilweise umgesetzten politischen Intensionen, daß Ganztagsschulen eingerichtet wurden, diese vordergründig gefördert und weiter ausgebaut werden sollten – in Deutschland wie in Österreich? Eltern bräuchten diese Einrichtungen um ihr Engagement mehr den beruflichen Tätigkeiten widmen zu können! Die Länder bräuchten Kinder um dem Prozeß der Überalterung der Gesellschaft in den Industrienationen entgegenzusteuern!
Fakt ist, daß der überwiegende Anteil beider Elternteile heutzutage arbeiten muß – auch in intakten Familien und nicht nur als Alleinerzieher. Freiräume für ein aktives Familienleben sind dünn gesät und Kinder bleiben mit ihren ureigensten menschlichen Bedürfnissen nach Aufmerksamkeit, Liebe und gemeinsamer familiärer Freizeitgestaltung auf der Strecke. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel ruft auf dem Parteitag aus, daß die Deutschen wieder die Eliteposition einnehmen wollen und deklariert dies als oberste Zielsetzung ihres Wahlkampfes.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwähren, als würde das Ergebnis der PISA-Studie einen Blickwinkel streifen, der in seiner Gesamtbedeutung einen viel wichtigern Stellenwert einnimmt, als die Suche nach Schuldigen und Verantwortlichen bzw. alleinig das Bestreben nach Verbesserungen in der Reihung der Besten. Stellt man sich die Frage: Was will eine Gesellschaft, was ist ihr Ziel? Bringt man diese Fragestellung auf die Ebene der Kinder und Jugendlichen, dann hört man von diesen sehr oft Aussagen wie: „Ich möchte berühmt werden! Ich möchte bekannt werden! Ich möchte viel Geld verdienen!„
Die Leitlinien der Gesellschaft haben sich in den letzten 20 Jahren stark geändert wie auch teilweise der Lehrstoff an den Schulen. Die Pädagogik hat sich weiterentwickelt, heute sprechen wir von ganzheitlichen und analytischen Unterrichtsmethoden. Doch was nützt dies, wenn nicht weniger, sondern mehr Unterrichtsstoff von wesentlich weniger Lehrpersonal mit gekürzten Unterrichtszeiten vermittelt werden soll? Jetzt ist unsere Gesellschaft jedoch an einem Punkt angelangt, an dem ein Umdenkprozeß stattfinden kann. Nicht in dem Sinn, wie steigender Lehrstoff Kindern und Jugendlichen eingetrichtert werden kann, sondern es taucht die Frage auf: Was will man tatsächlich? Was will die Gesellschaft und welche Anforderungen sind an die Schüler zu stellen?
Das PISA-Ergebnis als Wendepunkt: Wollen wir überhaupt eine derartige Entwicklung? – ist es das deklarierte Ziel, lauter Kinder, mit theoretischem „Über“-Wissen vollgestopft, einer schulischen Leitlinie zu unterwerfen, die allesamt darauf vorbereitet werden, eine berufliche Entwicklung einzuschlagen, die gar nicht erreicht werden kann? Wie viele arbeitslose Fachkräfte bis hin zum Akademiker gibt es denn bereits jetzt schon? Oder entwickelt sich jeglicher Beruf in einem zukünftigen Szenario, daß selbst eine Klofrau einen abgeschlossenen Desinfektor-Kurs, zwei Semester Psychologie-Studium und ein Diplom als Sozialarbeiterin benötigt?
Wie schön war es vor langer Zeit, als die Taferlklassler ihren ersten Schultag hatten und ein langsamer Übergang in den schulischen Lernprozeß erfolgte? Zunehmend entsteht Leistungsdruck durch gesellschaftliche Wertvorstellungen in Ergänzung mit rigorosen Sparmaßnahmen beim Lehrpersonal mit gleichzeitiger Unterrichtsverkürzung, der in so manchen Exzessen (siehe Erfurt) endet und keinerlei „Schule als Erlebnisstätte“ mehr einräumt. Davon sind jedoch bedauerlicher Weise alle schulischen Einrichtungen betroffen. Wenn das Kind dem Unterricht nicht in vollem Umfang folgen kann, wird ein Wechsel in die Vorschule vorgenommen. Keine Besonderheit für Grundschüler ist bereits nach 1-2 Monaten die Teilnahme am Förderunterricht um den Erfordernissen nachkommen zu können. Überforderter Lehrkörper kann sich dem einzelnen Individuum längstens schon nicht mehr mit dem Aufwand widmen, der bei mehr Unterrichtszeit zur Verfügung stand. Der Wechsel vom Kindergarten in die Grundschule ist wie eine Kneipp-Kur: Vom warmen Wasser in das Kältebad.
Sicherlich ein extremes Beispiel, doch für Ballungszentren durchaus repräsentativ die Volksschule in Wien 3., Eslarngasse wo laut Angaben der dortigen Direktorin Frau Mayer, im Inspektionsbezirk für den 1. und 3. Bezirk derzeit alleine 14 Lehrer fehlen und der Anteil der Kinder ausländischer Herkunft 42% in ihrer Schule beträgt. Im vergangenen Jahr gab es gegen Jahresende eine Pensionierungswelle, wobei die daraus resultierenden Personalnöte die Schulverwaltungen in ein Dilemma brachten, das einen normalen Unterrichtsverlauf kaum mehr gewährleistete.
Der Raum für das Individuum Kind ist eng geworden und unsere Gesellschaft übt indirekt durch eigene Wertvorstellungen und Konsumorientierung einen Druck aus, der nicht mehr viel Freiraum einräumt. Auf der anderen Seite ein erlebtes Beispiel aus dem Gymnasium, wo ebenso nach bereits einem Monat die Empfehlung durch den Klassenvorstand kam, Nachhilfeunterricht zu konsumieren. „Sonst schafft Ihr Kind den Stoff nicht“ – die gezogene Konsequenz der Erziehungsberechtigten: Schulwechsel. Eine starke psychische Belastung für die Schülerin, die in der Grundschule stets einen Vorzug hatte, den geänderten Erfordernissen, vor allem dem Leistungsdruck nicht zu entsprechen. Schulwechsel, weil die Eltern über dieses System nur den Kopf schüttelten und das eigene Kind nicht derartigen Vorgaben aussetzen wollten. Die Lehrer hätten nicht die Zeit, um sich um das Vorwärtskommen einzelner Schüler kümmern zu können, verlautete es am Elternsprechtag.
Eine ganz andere Problemstellung zeigen Kinder von Immigranten auf, unabhängig davon wie lange sich die Familie schon im Lande befindet: innerhalb dieser Familien wird zu einem überwiegenden Anteil die eigene, „mitgebrachte“ Muttersprache gesprochen, die Kinder auch in dieser Sprache aufgezogen. Bei den von uns geführten Interviews zeigten sich nur sehr vereinzelt Mütter bestrebt den Kindern im Alltag die Landessprache des jeweiligen Aufenthaltslandes zu vermitteln. Väter haben auch nur geringes Interesse an dieser Thematik und stehen dem eher gleichgültig gegenüber. Wen verwundert es dann, daß es mit lokalen Schwerpunkten Fälle gibt, wo Kinder von bereits eingebürgerten Mitmenschen ausländischer Herkunft deutsch nur brockenhaft oder gar nicht sprechen können. Hier erscheint dringender Handlungsbedarf zu bestehen, der jedoch nicht durch die Gesetzgebung erzwungen werden darf, sondern in Aufklärungsarbeit resultieren sollte.
Bildung ist die Ausgangslage, die den Kindern berufliche Möglichkeiten eröffnet, die über diejenigen einfacher Hilfsarbeiter hinaus gehen. Jedoch braucht es in der Gesellschaft nicht nur künftige Direktoren, Manager und Führungskräfte. Was wünschenswert wäre, ist eine Abkehr von derzeitigen Zielbestrebungen. Wir brauchen eine Gesellschaft, die praktisch orientiert ist und ein Grundverständnis für Humanität hat, wo Ethik und Umgangsformen ein Selbstverständnis sind und wo Wertvorstellungen über den Horizont von Konsumdenken hinausgehen. Wird das Ergebnis der PISA-Studie aus diesem Blickwinkel betrachtet, dann öffnet sich eine Chance, einen gesellschaftlichen Strukturwandel herbeizuführen, den Lehrplan etwas zurückzuschrauben und somit Druck zurückzunehmen und als Resultat jungen Menschen ein Fundament zu schaffen, das sich von Konsum entfernt und der Humanität zuwendet. Ebenso ist die Gesellschaft verpflichtet den notwendigen Rahmen für die Vermittlung des Lernplanes mit einer ausreichenden Anzahl von Lehrern zu ermöglichen. Sparpläne und Personalreduktion hat in diesem Segment nichts zu suchen!
2004-11-12